Brauchen wir eine Gründungskultur des Scheiterns?

Beitrag von Cord Siemon und Daniel von Wedel* zum Forschungssymposium 2018 des Institut für wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Forschung Frankfurt

in: A. Ruppert, T. Hagen, M. Schabel (Hrsg.), Symposium „Wissenschaft und Praxis im Austausch über aktuelle Herausforderungen 2018“; Link: https://cuvillier.de/de/shop/publications/7854-symposium-wissenschaft-und-praxis-im-austausch-uber-aktuelle-herausforderungen-2018

1            Einleitung

Zum Thema Scheitern wurden in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Artikel, Aufsätze und Bücher verfasst. Aus diesen Studien werden oftmals auch politische Forderungen abgeleitet, die das Scheitern junger Unternehmen und mögliche Gegenmaßnahmen betreffen. Dies ist insofern bedeutsam, als man heutzutage weiß, dass sich im internationalen Querschnitt ca. 40-60% der neu gegründeten Unternehmen nach fünf Jahren nicht mehr im Markt befinden – im Regelfall unfreiwillig! Im Gründungskontext wird Deutschland gerne als Paradebeispiel für eine Stigmatisierung gescheiterter Vorhaben herangezogen, da betriebliche und private Insolvenzen mit einem starken Bonitätsverlust einhergehen, insbesondere wenn es darum geht, dass gescheiterte Gründer es mit dem erworbenen Branchenwissen noch einmal mit einem anderen Vorhaben versuchen wollen. Dazu wird dann auch gerne das US-amerikanische Vorbild herangezogen, welches stark durch die Einstellungen der Start-up-Szenerie im Silicon Valley geprägt wurde. Dort gilt ein gescheitertes Unterfangen – auch unter den Finanzinvestoren – gewissermaßen als Gütesiegel, da die erworbenen Erkenntnisse im Rahmen neuer Vorhaben fruchtbar eingebracht werden können. Wenngleich man bezweifeln kann, dass dies repräsentativ für den gesamten amerikanischen Markt ist, so ist doch zu hinterfragen, ob nicht eine stärker ausgeprägte Kultur des Scheiterns – oder zumindest ein stärkeres Bewusstsein dafür – auch gefestigtere Unternehmerpersönlichkeiten hervorbringen kann, die durch persönliche und betriebliche Lerneffekte auch nachhaltigere Geschäftsmodelle hervorbringen. Das mittlerweile weltweit bekannte Format der „Fuck-up-Nights“ hat sich diesem Thema auf unkonventionelle Weise angenommen. Es versucht die Klientel der Start-up-Szenerie – junge Erwachsene mit kreativem Potenzial – durch ein unterhaltsam aufbereitetes Format – gescheiterte Gründer breiten ihre Geschichte illustrativ vor großem Publikum aus – anzusprechen und das Scheitern zu entstigmatisieren. Der nachfolgende Beitrag versucht sich an einer akademischen Aufbereitung dieses oftmals sehr plakativ und wenig differenziert vorgetragenen Themas, um Hintergründe und Formen des Scheiterns zu beleuchten (Kap. 2) und darauf aufbauend die Rolle von Fehlern, Misserfolgen und Scheitern in einem evolutorischen Kontext des unternehmerischen Lernens zu betrachten (Kap. 3).

2            Was ist Scheitern?

Eine allgemeingültige Definition für Scheitern gibt es nicht. Es regiert der Begriffsnominalismus, der wiederum auch die statistische Erfassung der Realität prägt. Es lässt sich damit feststellen, dass es „das Scheitern“ nicht gibt und es sich bei näherer Betrachtung einer bestimmten Definition geradezu entzieht (Kunert/Thomann/Wehner/Clases, 2016, S. 4f.). Viele Begriffe, wie bspw. Fehler, Fehlschlag und Misserfolg werden synonym zu Scheitern verwendet und zugleich wird Scheitern manchmal ohne Unterscheidung auf der persönlichen und unternehmerischen Ebene betrachtet.[1] Zudem wird Scheitern immer häufiger durch positive Attribute aufgeladen bis hin zu „Schöner Scheitern“.[2] Es werden viele verschiedene umgangssprachliche Formulierungen verwendet, wie bspw. „aus dem Gleis laufen“, „aus der Bahn geworfen werden“ oder „Schiffbruch erleiden“. Allen gemein ist, dass Scheitern als ein erheblicher Misserfolg bezeichnet wird und zumeist mit einem Versagen gleichzusetzen ist. Es handelt sich also nicht nur um einen Fehler[3], einen Irrtum[4] oder ein einfaches Misslingen[5]. Ein solcher Misserfolg bedeutet, dass eine Handlung, eine subjektiv sinnstiftende Tätigkeit, also ein intendiertes Ergebnis nicht realisieren kann. Scheitern ist dabei nicht als Ausnahme zu sehen, sondern als Option, die als potentieller Ausgang einer Handlung zu erwarten ist (Backert, 2004, S. 63).

In der Soziologie, die sich ebenso wie die Wirtschaftswissenschaften am zweckrationalen Handeln orientiert, wird Scheitern als eine nötige Voraussetzung für Erfolg gesehen. Nur wenn Scheitern möglich ist, dann wird der Erfolg auch als solcher honoriert (John/Langhof, 2014, S. 2f). Voraussetzung ist eine Handlung, die in einem Tun oder Unterlassen ihren Ausdruck finden kann. Im Scheitern stellt sich sodann eine Situation der Handlungsunfähigkeit ein, in der ein „Weiter so“ nicht mehr möglich ist. Besteht diese Handlungsunfähigkeit jedoch nur temporär und können bspw. durch eine Reflexion des Scheiterns hinsichtlich der Ursachen und Wirkungsweisen neue Handlungsmöglichkeiten aufgedeckt werden, so spricht man vom „graduellen Scheitern“. Handeln wird zur Bewältigung des Scheiterns, denn das Handeln, welches das Scheitern überwindet, ermöglicht wiederum neue Handlungsfelder. Junge spricht in diesem Zusammenhang von einer Explosion des Raums der Verfügbarkeiten durch das Handeln (Junge, 2004, S. 16f.). Graduelles Scheitern kann man als den unternehmerischen Normalfall ansehen (siehe Kap. 3), was sich an zahlreichen Biographien erfolgreicher Gründer zeigt, wie bspw. bei Thomas Edison oder Steve Jobs, die sich mit vielfältigen Rückschlägen auseinandersetzen mussten, bevor sie erfolgreich wurden.

Liegen keine Handlungsmöglichkeiten mehr vor und gelingt es nicht diesen Zustand zu überwinden, dann spricht man vom „absoluten Scheitern“. Der Begriff des absoluten Scheiterns wird in der Soziologie allerdings als Idealtyp gesehen, der mit seiner Bestimmung erst die Abgrenzung des graduellen Scheiterns ermöglicht (Junge, 2004, S. 16). Der Strafvollzug kann als eine Form von absolutem Scheitern auf sozialer Ebene angesehen werden, da die Handlungsmöglichkeiten der inhaftierten Person auf ein bestimmtes Maß minimiert sind. Hierbei kommt auch der Sanktionsmechanismus des Scheiterns zum Ausdruck, wenn ein Handeln soziale Normen verletzt (Junge, 2004, S. 16). Absolutes Scheitern auf unternehmerischer Ebene ist wohl am ehesten mit der Liquidation gleichzusetzen, während die Insolvenz als graduelles Scheitern anzusehen ist, da in der Insolvenzgesetzgebung grundsätzlich verschiedene Handlungsmöglichkeiten enthalten sind, wie bspw. auch die Fortführung.

Scheitern, wie auch Erfolg, kommt erst nachträglich zustande, indem die ursprünglichen Zielsetzungen mit dem tatsächlichen Ergebnis verglichen werden. Inwieweit eine Diskrepanz zwischen Ziel und Ergebnis eine Bewertung als Scheitern zulässt, unterliegt der sozialen und ökonomischen Position der Betroffenen, aber auch aller bewertenden, involvierten Akteure (Share- und Stakeholder). Was für eine Person persönlich als Erfolg gelten mag, kann eine außenstehende Person als Scheitern ansehen und umgekehrt. So sind dann auch unterschiedliche oder im Zeitablauf sich verändernde Bewertungsmaßstäbe mögliche Gründe für eine Umdeutung von Scheitern in Erfolg. Bisweilen erfolgt dies auch bewusst, um sich die Folgen der gesellschaftlichen Stigmatisierung zu ersparen (Kunert/Thomann/Wehner/Clases, 2016, S. 9).

Scheitern unterliegt zudem heutzutage einem Inszenierungspotenzial. Ebenso wie Erfolgsmeldungen lassen sich in der medialen Aufmerksamkeit Berichte über gescheiterte Unternehmen oder Personen des öffentlichen Interesses, wie Politiker, Sportler, etc. vermarkten. Insofern hat die narrative Aufarbeitung von Scheitern nicht nur eine wesentliche Bedeutung für die Betroffenen, sondern wird auch Teil des Kontexts, in dem sich Scheitern ereignet. Dies erklärt, weshalb die Forderung nach einer neuen Gründungskultur des Scheiterns im deutschen Startup-Ökosystem besonders durch die Gründerteams selbst vorgetragen wird. Als Beispiel für eine bessere Kultur des Scheiterns wird regelmäßig die US-amerikanische herangezogen, weshalb nun ein kurzer Vergleich der beiden Kulturen des Scheiterns folgt.

2.1       Kulturelle Unterschiede des Scheiterns

Die deutsche Insolvenzordnung von 1999 betont im Gegensatz zur früheren Gesetzgebung deutlich stärker die Unternehmenssanierung, jedoch steht weiterhin die Sicherung der Gläubigeransprüche im Vordergrund. Da im US-amerikanischen Recht traditionell der Konkurs als Mittel zur Überwindung einer Finanzkrise eines Unternehmens angesehen wird, ist die Stellung des Schuldners gegenüber der des Gläubigers begünstigt und das bisherige Management führt im Insolvenzprozess die Geschäfte in der Regel weiter (Stiefel, 2008, S. 70ff.). Nach deutschem Recht obliegt dies einem Konkursverwalter oder dem bisherigen Management unter Aufsicht eines Treuhänders. Für die USA lässt sich allgemein eine hohe Schuldenbereitschaft feststellen, die – ebenso wie die Anzahl der Insolvenzen – eine steigende Tendenz aufweist (Stiefel, 2008, S. 71f.).[6] Zudem lassen sich für die USA (im Vergleich zu Europa) weitere Besonderheiten zu sehen: Die sehr expansive Unternehmenspolitik von Kreditkartengesellschaften geht mit einer erheblichen Zinsbelastung des Privatkonsumenten einher und die Einleitung eines Konkursverfahrens gilt als „Strategie zur Vermeidung von finanziellen Lasten und zur Weitergabe finanzieller Risiken“ (Stiefel, 2008, S. 106). Seit den 1980er Jahren hat sich das Stigma eines Konkurses durch die Gesetzgebung somit abgemildert und die Kosten für ein Unternehmen und vor allem auch die Folgen für das Management und die Eigentümer fallen deutlich geringer aus (Stiefel, 2008, S. 90 ff). Das US-amerikanische Konkursrecht ist Ausdruck einer Wirtschaftsordnung mit einer hohen Risikobereitschaft, darf aber keinesfalls mit einer toleranteren Einstellung der amerikanischen Kultur gegenüber Misserfolgen gleichgesetzt werden.

Inwieweit sich die Kulturen des Scheiterns unterscheiden, hat Backert (2004) anhand der Kategorie des „sozialen Tods“ untersucht. Hierbei unterstellt er, dass sich in modernen Gesellschaften absolutes Scheitern im sozialen Tod manifestiert, was für den Scheiternden den Ausschluss von bestimmten, sozialen Kreisen und relevanten Ressourcen bedeutet. Der jeweilige Umgang mit Scheitern steht demnach in engem Zusammenhang mit der Bewertung von Erfolg. Während in Deutschland der Erfolgreiche kritisch beäugt wird und die Öffentlichkeit sehnsüchtig nach Misserfolgen und Fehlern sucht, wird in den USA der Erfolgreiche als Held gefeiert. Basierend auf dem „American Creed“ (liberty, equality, individualism, populism, lassez-faire) ist es auch eine Verantwortung eines jeden Individuums seine Fähigkeiten zu entwickeln und erfolgreich zu werden im Sinne des „American Dream“. Gescheitert sind dann diejenigen, die den Versuch nicht wagen oder sich gar mit dem Erreichten zufriedengeben. Dabei muss es sich um einen ernstzunehmenden Versuch handeln, der Scheitern als Handlungsoption (und damit auch als Ressource) nutzbar macht und in einen zukünftigen Erfolg führen kann. Für Deutschland unterstellt Backert hingegen, dass man eine Chance hat und sie entweder nutzt oder untergeht, da die deutsche Öffentlichkeit gescheiterte Personen nachhaltig demontiert und diskreditiert. Dies geschieht jedoch nicht aufgrund einer Neidkultur, sondern mit dem Drang in der anderen Person sich selbst zu sehen. So wird einer erfolgreichen Person der Erfolg zugestanden, solange diese ein hohes Maß an Bodenständigkeit aufweist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der Deutsche im Scheitern der Anderen auch das eigene Potenzial des Scheiterns erkennt und sich durch die Stigmatisierung des Gescheiterten davon abgrenzen möchte (Backert, 2004, S. 63ff.).

Die Wahrnehmung in Deutschland bezüglich der US-amerikanischen Kultur des Scheiterns ist insbesondere durch die mediale Aufmerksamkeit erfolgreicher Technologieunternehmen und ihrer Investoren im Silicon Valley geprägt. Scheitern wird von den dort ansässigen Wagniskapitalgebern geradezu gefordert, da sie von den Gründern erwarten, groß zu denken und überproportional schnell zu wachsen. Dies führt in Kombination mit neuartigen Geschäftsmodellen oder Produkten bei einem Großteil der von Wagniskapital finanzierten Startups nicht zu dem gewünschten finanziellen Erfolg. Diese Ausfallrate an Beteiligungen haben die Venture Capital-Investoren jedoch bereits in ihrem Geschäftsmodell berücksichtigt und sie nehmen bei der Suche nach dem „Next Big Thing“ das Scheitern vieler „smaller things“ bewusst in Kauf.[7] Abschließend zu diesem Themenbereich muss noch angefügt werden, dass eine Kultur keine auf einen Bereich begrenzte Erscheinung ist, sondern immer in ihrer Gesamtheit zu betrachten ist. Insofern muss man an dieser Stelle auch die Frage stellen, welche negativen Begleiterscheinungen des „American Dream“ mit einer US-amerikanischen Sichtweise auf eine Kultur des Scheiterns zwangsläufig einhergehen. Oftmals werden bspw. Aspekte wie ungleiche Einkommensverteilung und geringere Qualifizierungs- und Aufstiegschancen für weniger privilegierte Bevölkerungsschichten angeführt.

2.2       Gründe und Arten des Scheiterns bei Gründungen

Bei Gründungen von innovativen Wachstumsunternehmen lassen sich selten einzelne Gründe für ein Scheitern identifizieren. Meist ist es eine Kombination von Problemen, Gefahren und Risiken, die nicht erkannt oder in ihren Auswirkungen unterschätzt werden. Jedoch ist ihre Relevanz in Bezug auf das Scheitern zum Teil sehr unterschiedlich zu bewerten und oftmals erst im Nachhinein erkennbar. Weiterhin wird aufgrund von mangelnden Ressourcen oder fehlender Erfahrung unsachgemäß reagiert, so dass keine effektive Krisenbewältigung realisiert werden kann. In Untersuchungen zum Gründergeschehen wurden wiederkehrende Gründe identifiziert, die aufgrund ihrer Häufigkeit für zukünftige Gründungen einen Hinweis geben, in welchen Bereichen sich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Probleme einstellen können. So veröffentlicht CB Insights zum Beispiel eine Aufstellung der TOP 20-Gründe für das Scheitern von US-amerikanischen Startups.[8] Die ersten fünf Gründe sind (1) fehlender Bedarf beim Kunden, (2) mangelnde finanzielle Ausstattung, (3) unzureichende Humanressourcen, (4) überlegener Wettbewerb und (5) Probleme bei der Preisbereitschaft. Eine Analyse des österreichischen Kreditschutzverbands gibt stattdessen (1) Fehler im und außerhalb des Betriebs, (2) fehlende unternehmerische Weitsicht, (3) Fahrlässigkeit und (4) Kapitalmangel als Hauptursachen an (Stiefel, 2008, S. 42f.). Es zeigt sich also, dass hier bis auf die mangelnde Kapitalausstattung kaum Übereinstimmung zu erkennen ist.[9]

Um dennoch eine Einordnung vorzunehmen, sollen im Folgenden einige Arten des Scheiterns dargestellt werden. Diese zielen weniger auf einen spezifischen Grund ab, sondern beschreiben eine unternehmerische Situation, in der die handelnden Personen fehlerhafte Entscheidungen treffen. Dies geschieht aufgrund von begrenzter Rationalität des Menschen und führt zu Denk-, Urteils- und Entscheidungsfehlern, zusätzlich begünstigt durch die Komplexität in unternehmerischen Wachstumsphasen, teilweise unter erheblichem Zeit- und Kostendruck (Bedenk/Mieg, 2016,  S. 49). Bedenk und Mieg beziehen die folgenden Arten des Scheiterns auf strategische Entscheidungen anhand von Innovationsbeispielen:[10]

  1. Scheitern an Wunschdenken

Eine zu positive und voreingenommene Sicht auf das Vorhaben erzeugt eine unangemessene Zuversicht in die Erfolgsaussichten. Während eine positive Grundeinstellung sicherlich notwendig für eine Gründung ist, führt ein Überoptimismus zu einer Bagatellisierung von kritischen Aspekten, Schwierigkeiten und Herausforderungen. So werden beispielsweise Entwicklungszeiten zu kurz, damit verbundene Kosten zu niedrig und erzielbare Umsätze zu früh und zu hoch geplant.

  • Scheitern an Selbstüberschätzung

Gründer beschäftigen sich sehr intensiv mit ihrem Gründungsvorhaben und oft sind sie in der Branche oder im Thema schon lange Zeit tätig. Dies verleitet zu der Annahme, dass sie mehr wissen als es tatsächlich der Fall ist, was als „Overconfidence“ bezeichnet wird. Zudem gibt es in ihrem Umfeld wenige Personen, die über ähnliches Know-How verfügen oder es kann vorkommen, dass ihnen von den Gründern ein ähnlich umfassendes Wissen nicht zugestanden wird. Damit geht gerade in frühen Phasen der Unternehmensentwicklung ein kritischer Resonanzboden verloren. Auf organisationaler Ebene kann ebenfalls eine solche Form der Selbstüberschätzung geschehen, so dass andere Unternehmen und auch der Wettbewerb ungerechtfertigt als weniger fähig angesehen werden und die Konkurrenzsituation unterschätzt wird.

  • Scheitern am „not invented here“-Phänomen

Mit dem vorgenannten Problem der organisationalen Selbstüberschätzung geht oftmals eine unzureichende Auseinandersetzung mit bereits bestehenden oder vergleichbaren Lösungsansätzen im Markt einher. Andere Erfahrungen oder Ideen werden nicht ausreichend mit dem eigenen Vorhaben verglichen und kritisch untersucht, so dass sich hier keine Lernressource erschließen lässt.

  • Scheitern an falschen Vorbildern

Im Kontrast zum Vorgenannten steht das Scheitern an falschen Vorbildern, bei dem zu unkritisch Muster oder Vorbilder aus anderen Unternehmen, Branchen oder Kulturkreisen übernommen werden. Dabei werden zum Beispiel Besonderheiten der jeweiligen Vorbilder nicht berücksichtigt und ihre Anwendbarkeit in Bezug auf das eigene Vorhaben nicht ausreichend geprüft. Referenzen hierfür können bspw. Marktführer einer Branche sein. Im Bereich der Startups wird argumentativ auch gerne auf erfolgreiche Technologie-Unternehmen aus den USA zurückgegriffen, um im Geschäftsplan bspw. anzugeben, das neue „AirBnB einer Branche X“ zu sein.

  • Scheitern an sich bestätigenden Informationen

Informationen und Erfahrungen werden beim „Confirmation Bias“ als Belege für eine erfolgreiche Umsetzung angesehen, obwohl ihr Aussagegehalt nicht unbedingt dem faktischen Anwendungsfall entspricht. Es erfolgt eine Uminterpretation, um die eigene Meinung zu bestätigen. Dabei werden widersprüchliche oder gar negative Informationen zum Teil vollständig ausgeblendet. Dies kann auch dazu führen, dass kritische Diskussionspartner nicht mehr gehört werden und unbewusst oder gar zielgerichtet nach bestätigenden Informationen gesucht wird.

  • Scheitern am „Jetzt ziehe ich es durch“

Auch wenn negative Informationen und Erfahrungen wahrgenommen werden, kann dies dazu führen, dass Gründer weiter an ihrem Ziel festhalten, ohne ihre bisherigen Entscheidungen und Vorgehensweisen einer Überprüfung zu unterziehen. Wenn dies damit einhergeht, dass sie ihre eigene Meinung und Vorstellung nicht bereit sind zu ändern oder auch nur zu reflektieren, dann besteht durch das Nicht-Aufgeben-Wollen die Gefahr des Scheiterns. Bestärkt wird dies durch die bereits investierten Ressourcen an Zeit und Geld (sunk cost fallacy) und der Problematik, dass der Gründer sein gesamtes Vorhaben einschließlich der zugrundeliegenden Idee und Vision in Frage stellen muss.

Bedenk und Mieg sehen als eine Voraussetzung für die Vermeidung dieser Biases eine Einstellung im sokratischen Sinne: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, also einer bewussten Wahrnehmung der eigenen begrenzten Rationalität und der damit einhergehenden Folgen bei der Entscheidungsfindung, um dadurch eine zusätzliche Lern- und Entwicklungsperspektive zu erhalten.

3            Gründung, Scheitern und Lernen

„I can accept failure, everyone fails at something. But I can’t accept not trying.“ Dieser auf die Basketball-Legende Michael Jordan zurückgehende Aphorismus impliziert, dass der Moment des (graduellen) Scheiterns eine unmittelbare Erfahrung bietet, welche eine direkte Lernsituation hervorrufen kann, die bspw. in der Wissenschaftstheorie von Popper ihren Ausdruck im Falsifikationismus respektive Kritischen Rationalismus findet (vgl. bspw. Popper, 1971; Albert, 1968). Die vielen Beispiele in der Geschichte, in dem ein zunächst nicht gewünschtes Ergebnis zu einem vollen Erfolg wurde (z.B. Penicillin) oder zahlreiche Fehlschläge einem großen Durchbruch vorangegangen waren, zeigen, dass Scheitern Bestandteil von zahlreichen Innovationen ist. Die Häufigkeit dieser Erscheinung bestätigt, dass man hier von einem Normalfall sprechen kann. Inwieweit kann also eine Lernsituation gezielt herbeigeführt werden oder Momente des graduellen Scheiterns erkannt und behoben werden, damit es im Ergebnis nicht zu einem absoluten Scheitern kommt. Ziel ist also ein „erfolgreiches Scheitern“, was paradoxerweise bedeutet, dass man auch im Scheitern scheitern kann (John/Langhof, 2014, S. 3ff.).

Das Kommen und Gehen von Unternehmen stellt in einem marktwirtschaftlichen System einen ordnungsökonomischen Alltag dar. In die Lebenszykluslogik eines Unternehmens sind die Geburt und der Tod, samt der eingelagerten und von zwischenzeitlichen Widrigkeiten geprägten S-Kurvendynamik, typische Ansatzpunkte für betriebs- und volkswirtschaftliche Debatten. Nicht zuletzt deswegen werden für diese Sichtweise oftmals sog. „evolutorische Ansätze“ herangezogen, um die Erfolgsträchtigkeit und Überlebensfähigkeit von Unternehmen sowie deren Bestimmungsfaktoren unter die Lupe zu nehmen (vgl. bspw. Kerber, 1997; Röpke, 1977, 2002). Über die Falsifikation einer Wettbewerbshypothese würde demnach sukzessive Wissen aufgedeckt, welches der Evolution eines marktwirtschaftlichen System insgesamt dienlich ist, da dieses Wissen dann allen potenziellen und aktuellen Akteuren zur Verfügung steht (Kerber, 1997).[11] Nun ist es aber so, dass diese grundsätzlich positive Grundhaltung zum Thema Scheitern die Unternehmerinnen und Unternehmer auf einzelwirtschaftlicher Ebene vor eine Vielzahl von Problemen stellt: Je nach definitorischer Auslegung und statistischer Erfassung überleben ca. 40-60 % der neu gegründeten Unternehmen die ersten 5 Jahre nicht – größtenteils handelt es sich dabei wohl um unfreiwillige Marktaustritte (vgl. bspw. Freiling/Wessels, 2010). Neben den finanziellen Begleiterscheinungen einer Liquidation sind es insbesondere die psychischen und sozialen Probleme, die viele als sehr belastend empfinden. Damit verbunden sind auch die bekannten Stigmata hinsichtlich der verlorenen Bonität.  Resilienz und Volition als Wegbereiter für das Voranschreiten und die positive Weiterentwicklung gradueller Formen des Scheiterns sind dann natürlich wichtig (Bilinski, 2016; Keller, 2008), aber die Frage ist: Wie kann man sich unternehmerische Lernprozesse vorstellen, die einem Gründungsteam helfen, ein absolutes oder graduelles Scheitern zu verarbeiten und in konstruktive Bahnen zu lenken?

3.1       Wie ein Phönix aus der Asche…

Das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit des Scheiterns im Gründungskontext haben in den letzten Jahren zugenommen. Seit 2014 hat sich das Format der sog. „Fuck-up Nights“ etabliert, um die mit einem Scheitern verbundenen Möglichkeiten des Lernens besonders zu akzentuieren. In lockerer Atmosphäre und vor Hunderten von Zuschauern erzählen Personen von ihren Niederlagen und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Grundtenor: Diese konnten auf verschiedenen Wegen überwunden werden, man hat viel daraus gelernt, um wie ein Phönix aus der Asche gestärkt wieder ins Geschehen einzugreifen. Was genau aus dem Scheitern zu lernen ist, wird dabei i.d.R. sehr deskriptiv vorgetragen und ist von den subjektiven, sehr situationsspezifischen Erfahrungen geprägt: [12]

  • „…unbedingt auf den Programmcode fokussieren…“;
  • „…sucht Halt bei Euren Freunden / Liebsten…“;
  • „…keine vorschnellen Über-Nacht-Entscheidungen…“;
  • „…hört/hört nicht auf Eurer Bauchgefühl…“;
  • „…nur die Grundfunktionalität austesten, alles Andere ist viel zu teuer“;
  • „…nehmt lieber richtig Geld in die Hand, damit gleich professionelle Strukturen aufgebaut werden können…“;
  • „…unbedingt / auf keinen Fall Berater involvieren…“;
  • „…im Team schauen, ob es passt…“;
  • „…Hände weg von den Drogen…“;

Aus dieser Zusammenstellung wird deutlich, dass mit dieser Form des Story-Tellings sicherlich Bewusstsein und Aufmerksamkeit gewährleistet wird, für eine akademische Aufbereitung sollten die im Scheitern eingelagerten Lernprozesse jedoch systematischer erfolgen. Die nachfolgenden Ausführungen, versuchen ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen, um die Frage nach einer Gründungskultur des Scheiterns auch an eine effektive Form des unternehmerischen Lernens zu koppeln.

3.2       Scheitern und evolutorisches Lernen

Grundsätzlich weiß man aus der Gründungsforschung, dass viele Wege zu einem erfolgreichen bzw. überlebensfähigen Dasein führen können (vgl. bspw. Miner, 1996). Im evolutorischen Kontext stellt das fortwährende Lernen im Zeitablauf der Unternehmensentwicklung auf der persönlichen Ebene der involvierten Akteure (Röpke, 2002), aber auch auf organisationaler Ebene (Nonaka/Takeuchi, 1997) eine große Rolle, wenn es darum geht, immer wieder neue, anders geartete Probleme und Herausforderungen zu lösen. Die o.g. Aspekte des evolutorischen Lernens über die Falsifikation (im Popperschen Sinne) wurden in der Entrepreneurship-Literatur insbesondere über die von Sarasvathy angestoßene „Effectuation vs. Causation“-Diskussion geprägt. Während die klassische Lehrbuch-Logik für die Gründungsqualifizierung oftmals den ausformulierten Geschäftsplan in den Vordergrund rückt, mit dem aus gegebenen Zielen kausal ein bestehender Ressourcen- und Finanzbedarf abgeleitet wird („Causation“), sieht Sarasvathy im Austesten der Produktidee mit gegebenen Ressourcen zur Analyse und Weiterentwicklung der damit verbundenen Lerneffekte („Effectuation“) die Verhaltensform, die Unternehmer-Teams in der Realität anwenden (siehe bspw. Sarasvathy, 2001).[13]

Gestützt wird diese Sichtweise durch die neuere Lean Start-up-Auffassung (Ries, 2011; Maurya, 2013).  Basierend auf einem wahrgenommenen Kundenproblem soll die Problemlösung als Wertangebot in Form von Hypothesen formuliert werden, um das Produkt bzw. die Dienstleistung niederschwellig mit einer Grundfunktionalität als MVP (Minimum Viable Product) zu entwickeln und im Rahmen eines Kundentests einen „Product-Market-Fit“ zu eruieren.[14] Im Zuge der Falsifikation (oder vorläufigen Nicht-Falsifikation) sollen die Ergebnisse – gemessen mit sog. KPIs (Key Performance Indicators) – helfen, das MVP bis zum Stadium der Skalierung zu pivotieren, also strategisch auszurichten. Diese vorläufigen Stadien der Produktentwicklung gewährleisten damit einen „Proof-of-Concept“ (auch „Traction“ genannt), um mit dieser evidenzbasierten Geschäftsmodellentwicklung Marktwissen und Vertrauenssignale im Gründungsteam, aber auch in der Kommunikation mit Stakeholdern zu entwickeln.

Abb. 1 stellt die genannten Zusammenhänge als evolutorischen Prozess dar. Es ist hervorzuheben, dass diese Form des graduellen Scheiterns – bei Sarasvathy eingewoben in ein gründungsspezifisches Vorgehen beim Umgang mit „echter Unsicherheit“ (Affordable Loss-Prinzip, Lemonade-Prinzip etc.) – Fehler und Misserfolge als kleine Form des Scheiterns betrachtet werden kann und damit als Prophylaxe vor dem großen (absoluten) Scheitern bzw. als Grundvoraussetzung für den Erfolg. Was aber bei diesem einfachen evolutorischen Modell auffällt: Die gesamte Diskussion um die Ansätze von Sarasvathy und Ries ranken sich nahezu ausschließlich um die schrittweise herbeizuführende Anpassungsfähigkeit des MVP an den realen Kundenbedürfnissen („Product-Market-Fit“), aber kaum um die u.E. vielleicht noch viel bedeutsamere Pivotierung des Gründerteams. Im Start-up-Kontext bestehen eben im Frühstadium nicht nur Unwägbarkeiten und Vertrauensprobleme bezüglich des Markt- und Skalierungspotenzials, sondern auch hinsichtlich der Team- und Organisationsstrukturen (Shareholder, Rechtsform, Arbeitsteilung etc.). Fragilität stellt hier den Normalfall dar und Start-ups können als temporäre Organisationen auf der Suche nach einem skalierbaren Geschäftsmodell aufgefasst werden (siehe dazu Blank/Dorf, 2012, Kap. 2). Gerade hier müsste u.E. analytisch eine Parallelität der Pivotierung vom Typ „Product-Market-Fit“ und „Team-Market-Fit“ stärker in den Vordergrund gerückt werden. Die Notwendigkeit für diese erweiterte Sicht resultiert aus einem etwas erweiterten evolutorischen Blickwinkel, der die Rolle des fachübergreifenden Lernens auf systemischer – also individueller und organisationaler – Ebene betrachtet und dabei den Prozess des graduellen Scheiterns berücksichtigt.

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Abb. 1: Scheitern, Lernen und Pivotieren: Das einfache evolutorische Modell

Eine erweiterte Sichtweise stellt der evolutorische Ansatz des unternehmerischen Lernens dar, der sich auf die Mikroperspektive der lernenden Akteure und Organisationen fokussiert. Die von Röpke (2002, S. 87ff. und S. 108ff.) lerntheoretisch besonders herausgestellte „Evolutionsfunktion“ thematisiert die Notwendigkeit und Form des Aufbaus von neuen Kompetenzen („Evolution“) im o.g. Entwicklungskontext, welche bspw. den bekannten Unternehmersystemen vom Typ „Schumpeter“ (Innovatoren) oder „Kirzner“ (Arbitrageure) bei der Verfolgung ihrer unternehmerischen Gewinninteressen zur Verfügung stehen. Neue Kompetenzen erlauben dem Basissystem mehr Systemzustände und gewährleisten einen proaktiven, konstruktiven Umgang mit hoher Umweltkomplexität. Dahinter steht das von Ross Ashby (1974) formulierte „Law of Variety“: Nur Vielfalt (Eigenkomplexität) kann Vielfalt (Umweltkomplexität) beherrschen.[15]  Röpke (2002, S. 261ff.) unterscheidet dazu vier interdependente Dimensionen des Lernens:

  • Lernen 0: Optimierung, Datenanpassung, Routinehandeln;
  • Lernen 1: (Fach-)Wissensaufnahme und -anwendung;
  • Lernen 2: Kompetenzerwerb (Lernen lernen, Kommunikation etc.);
  • Lernen 3: Reflexions-/ Visionskompetenz.

Fachübergreifende Fähigkeiten zur Selbstevolution auf den Lernebenen 2 und 3 rücken bei diesem Ansatz in den Vordergrund, wenn es darum geht, wie Lernen faktisch vonstattengeht. Während Lernen 0 unternehmerische Routine und damit eine Optimierung repräsentiert und Lernen 1 auf die Aufnahme und Anwendung von sog. Hard Skills abzielt, ist evolutorisches Lernen (Lernen 2 und 3) individualistisch und begründet stark die Funktionsweise des unternehmerischen Wahrnehmungsapparates bei der Informationsaufnahme (Lernen 1). Eine starke Vision, wie bspw. im Falle von Bill Gates und seinem Team („Auf jedem Schreibtisch und in jedem Haushalt ein PC“) entfaltet Kräfte und Motivation für den Erwerb von Umsetzungskompetenz (Lernen 2: Kommunikation mit Investoren etc.) und Fachwissen (Lernen 1: Neue Programmiersprache). Durch die routinemäßige Einbindung und Optimierung im Alltag wird der Weg zum impliziten Wissen, d.h. zum unbewussten Handlungswissen geebnet. Ein PC auf jedem Schreibtisch – damals eine Vision, aus heutiger Sicht Routine.

Welche visionäre, selbstreflexive Kraft und Umsetzungsstärke im Zeit- und Kommunikationsmanagement hat ein Startup-Team? Lässt sich die Ausprägung auch nach erfolgtem Markttest im Zeitablauf messen? Auch hier gilt: Ohne Markttest eines Minimum Viable Teams (MVT: Gründungsteam, Organisationsstruktur, Arbeitsteilung, Rechtsform etc.) und dessen Pivotierung geht es nicht und ohne den qua Falsifikation eingefangenen Reflexionswert über die faktische Ausprägung der Lernkompetenz auf den jeweiligen Ebenen ist eine Pivotierung unmöglich (Team-Market-Fit). Auch hier gilt: Beim Eintritt einer Liquidation (absolutes Scheitern) kann daraus natürlich auf allen Lernebenen viel gelernt werden. Aber gerade die Alltagsprobleme und -fehler sollten vom Gründungsteam als Normalfall des graduellen, im Grunde sogar vorhersehbaren, Team-Scheiterns beim Pitching, bei der Abfassung des Geschäftsplanes, in der Verhandlungsführung, bei der Mitarbeiterakquise etc. aufgefasst werden. Damit verbundene Nicht-Zahlungen (bspw. Investor-/Kundenabsagen) sollten – im Sinne von Luhmann (1999) – entsprechend reflektiert werden und zur Pivotierung im Team anregen. Fähigkeiten werden demnach im Wettbewerbsgeschehen wechselseitig entfaltet (sog. „Ko-Evolution“).[16]

Abb. 2 illustriert diese etwas erweiterte evolutorische Perspektive, wobei zu konstatieren ist, dass evolutorisches Lernen durch wirksame Lehrmethoden, die sich an den inneren Landkarten der Lernenden orientieren, positiv beeinflusst werden kann, wenn sich die Methoden an den Erfordernissen der einzelnen Lernebenen orientieren. Mut, Kompetenz und Energie für den Umgang mit Unsicherheit und Widerständen soll damit gesteigert werden, gleichzeitig soll damit aber auch die Angst vor Fehlern, Misserfolg und Scheitern reduziert werden (Siemon, 2010; Otter/Siemon, 2016).[17] Damit verbunden wäre aber auch das Erfordernis der Bildung von KPIs für fachübergreifende Fähigkeiten (bspw. Kompetenzatlas von Heyse/Erpenbeck, 2009; Erpenbeck/Rosenstiel, 2007).

Abb. 2: Scheitern, Lernen und Pivotieren: Das erweiterte evolutorische Modell

Durch das Zusammenspiel der Lerneffekte auf den verschiedenen Lernebenen soll der Prozess von der unbewussten Inkompetenz zur unbewussten Kompetenz gestärkt werden. Das Streben nach Vervollkommnung des Wissens auf der Lernebene 0 und 1 – also bspw. die Ausarbeitung kompletter Geschäftspläne unter „echter Unsicherheit“ ohne irgendeine Form von echtem Marktwissen und basierend auf zahlreichen fiktionalen Szenarien – ohne parallele Komplexitätssteigerung auf den Lernebenen 2 und 3 (im Marktgeschehen getestet und pivotiert) beinhaltet sogar die Gefahr evolutiver Stagnation oder gar Rückbildung (sog. Involution). Kontrollillusionen, Komplexitätsreduktion durch Fokussierung auf Planerfüllung, leistungsmotivationshemmendes Überwissen usw. stellen hier typische Problemfelder dar (Röpke, 2002, S. 286f.; Bleicher, 2004, S. 50ff.; Siemon, 2016, S. 122). Die Erstellung von Geschäftsplänen ohne parallele Fähigkeitsentfaltung auf verschiedenen Lernebenen mit eingelagertem Anwendungsfall für ein reales Kundenproblem kann unternehmerische Energie nachhaltig blockieren. 

4            Fazit: Besser scheitern…

Die Diskussion um eine Gründungskultur des Scheiterns hat grundsätzlich zu einem stärkeren Bewusstsein und zu mehr Aufmerksamkeit hinsichtlich der Bedeutung unterschiedlicher Formen des Scheiterns im Gründungskontext geführt. Ob das US-amerikanische Vorbild unkritisch als Benchmark herangezogen werden sollte, muss bezweifelt werden. Liquidationen und unfreiwillige Marktaustritte können sicherlich als eine ausgeprägte Form des Scheiterns betrachtet werden, die in einem marktwirtschaftlichen System unter ordnungs- und evolutionsökonomischen Gesichtspunkten niemals ausgeschlossen werden können und sollten. „Absolutes Scheitern“ stellt eher ein sehr abstraktes Denkmodell dar; ein existenzbedrohendes Scheitern ist nicht wünschenswert und sollte wegen der möglichen Konsequenzen für Kreditwürdigkeit, Psyche und Erwerbsbiografie nicht fahrlässig heraufbeschworen bzw. gefordert werden – zumal Formate wie die Fuck-up-Nights bspw. auch kein Gefühl dafür vermitteln, welche Personen nicht genügend Resilienz und Volition aufbauen konnten, um sich wie ein Phönix aus der Asche zu präsentieren.

So sehr die Aufmerksamkeit in der Gründungspraxis, in der akademischen Welt und in der öffentlichen Wahrnehmung auch zunimmt, so sehr bleiben die dahinter stehen Lernprozesse unklar. Um der Evidenzbasierung mehr Reflexionskraft und daran anknüpfend auch Möglichkeiten der methodischen Einflussnahme zu geben, wäre eine lerntheoretisch begründete bzw. verortete Ursachenanalyse und anschließende Pivotierung bedeutsam, die sowohl das Produkt als auch das Team zum Gegenstand haben. Selbst die moderne Interpretation des Lean Start-ups fokussiert Möglichkeiten der systematischen Pivotierung fragiler Teamstrukturen nicht bzw. kaum, wenn es darum geht, wie sich traditionelle und fachübergreifende („evolutorische“) Fähigkeiten im Zeitablauf im Zuge von strukturellen Kopplungen zur Unternehmensumwelt verändern. Der Kerngedanke bleibt aber auch durch diese etwas erweiterte evolutorische Sicht bestehen: Eine Unternehmens-/Gründungskultur des positiven Scheiterns ist erforderlich und umso fruchtbarer, je stärker graduelles Scheitern als notwendige Begleiterscheinung eines entwicklungsdynamischen Prozesses wahrgenommen und lerntheoretisch verortet wird. Schumpetersche Entwicklungsdynamik lässt sich nicht im luftleeren Sozialraum induzieren, den Geschäftsplan für sich sprechend lassend – die Durchsetzung der Neukombination von Produktionsfaktoren impliziert einen Realitätsabgleich der eigenen Zielsetzungen, Visionen und Hypothesen durch eine stetige strukturelle Kopplung zur Unternehmensumwelt und exploratives Herumprobieren. In den Worten von Literatur-Nobelpreisträger Samuel Beckett („Warten auf Godot“): „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“

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*      Cord Siemon ist Professor für ABWL, insbesondere Entrepreneurship, an der Frankfurt University of Applied Sciences. Daniel von Wedel (MBA) ist Lehrbeauftragter im MBA „Entrepreneurship & Business Development“, Mitglied im Institut für Entrepreneurship (IFE) an der Frankfurt University of Applied Sciences

[1]      So zum Beispiel in der Studie von Kuckertz – Gute Fehler schlechte Fehler (2015).

[2]      Siehe dazu die gleichnamige Artikel-Serie auf Gründersezene.de bei der Gründer von ihren negativen Erfahrungen aus dem Startup-Leben berichten

[3]      Fehler: Zielorientiertes Handeln führt nicht zum beabsichtigten Ergebnis, obwohl entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Zielerreichung vorhanden sind.

[4]      Irrtum: Zielverfehlungen aufgrund von fehlendem Wissen können auch als Irrtümer bezeichnet werden.

[5]      Misslingen: Es liegt eine Störung vor, d.h. die konkreten Bedingungen eines Verhaltens geraten in Konflikt mit dem gewünschten Ergebnis.

[6]       Zudem sind bedingt durch das amerikanische Wirtschafts- und Rechtssystem die bestehenden Bedingungen des Insolvenzverfahrens für in diesem Bereich agierende Anwaltskanzleien von großem wirtschaftlichen Interesse.

[7]      Die Kalkulation von VC-Gesellschaften geht davon aus, dass nur rund 10 % der Portfoliounternehmen als Outperformer (sog. „Home-Run“ oder „High-Flyer“) die restlichen quersubventionieren müssen, um die Renditeinteressen der Fondsinvestoren zu befriedigen. Dabei wird eine Ausfallquote von 30-40 % berücksichtigt, weitere 30-40 % der Unternehmen erreichen die angestrebten Wachstumsziele nicht und sind auf permanente Kapitalinfusionen angewiesen (sog. „Living Deads“). Die Suche nach dem nächsten Unicorn, bei dessen milliardenschwerer Wertentwicklung das zuvor investierte Kapital vervielfacht wird, kennzeichnet somit das VC-Geschäftsmodell. Siehe dazu Siemon (2007, 2009) und Wedel (2016) sowie und die dort jeweils zitierte Literatur.

[8]      Siehe dazu die Hinweise unter https://www.cbinsights.com/research/startup-failure-reasons-top/ (Abruf: 17.06.2018).

[9]      In diesem Zusammenhang muss jedoch die Frage gestellt werden, ob Kapitalmangel als Grund hinreichend ist oder nicht viel mehr als Folge vorgelagerter Gründe anzusehen ist.

[10]    Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf Bedenk/Mieg (2016, S. 39ff.). Insbesondere innovative Wachstumsunternehmen weisen sehr ähnliche Charakteristika in Bezug auf Neuartigkeit, Unsicherheit und Komplexität wie Innovationsprojekte auf. Insofern lassen sich die Arten auch auf Startups übertragen.

[11]    Der Wettbewerb dient somit als Entdeckungsverfahren, wie Hayek dies immer wieder betont hat. Die Nutzung dezentraler Wissens- und Entscheidungsträger über den Wettbewerbsmechanismus wirkt somit insofern evolutorisch, als in einem komplexen Wirtschaftssystem sukzessive das implizite und explizite Wissen der Produzenten und Konsumenten über den Preismechanismus aufgedeckt wird. Zentrale Planung unterliegt demnach dem Triumph der Komplexität und mündet im Problem der Anmaßung von Wissen (siehe dazu Hayek, 1968, 1972, 1976). Das Argument lässt sich auch auf das Problem umfassender Geschäftspläne im Start-up-Bereich transferieren (siehe unten).

[12]    Siehe dazu auch das vom Failure Institute (2014) herausgegebene und online verfügbare Fuck-up-Buch. Das Failure Institute ist aus der Fuck-up-Nights-Initiative hervorgegangen und organisatorisch eng mit ihr verknüpft.

[13]    Sarasvathy entstammt der Denktradition von Simon und hat sich bei der Analyse von unternehmerischem Verhalten in Situationen, die von „echter Unsicherheit“ geprägt sind, einem deskriptiv-entscheidungstheoretischen Ansatz verschrieben.

[14]    Diese im Start-up-Kontext als Startpunkt für die weitere Geschäftsmodellierung bekannte Vorgehensweise geht auf Osterwalder/Pigneur (2010) zurück. Die damit zusammenhängende Sichtweise des Lean Start-up-Gedankens trifft den Gedanken der evolutionären Erkenntnistheorie von Popper sehr gut: „Alles Leben ist Problemlösen“. 

[15]    In seinen systemischen Grundzügen hat Röpke diesen Ansatz bereits 1977 herausgearbeitet und dabei konstatiert, dass Neuerungsverhalten kausal mit einem Zusammenspiel der Handlungsgvariablen „Handlungsrechte“ (Dürfen), „Kompetenzen“ (Können) und „Leistungsmotivation“ (Wollen) verknüpft ist.

[16]    Das von Schumpeter (1947) geprägte Begriffspaar „creative vs. adaptive response“ weist somit im Licht des Ashby-Gesetzes eine Verbindungslinie zur evolutorischen Unternehmerfunktion auf: Ein erfolgreicher „creative response“ wird durch komparative Vorteile im evolutorischen Lernen („evolutionary response“) wahrscheinlicher – eingelagerte Lerneffekte aus Situationen des Scheiterns und Misslingens inbegriffen.

[17]    Zwar existieren spezifische Methoden für ein Effectuation-Training (Faschingbauer, 2013), aber Methoden, die zum Scheitern auffordern, findet man im Gründungskontext selten. „Get rejected“ schlägt das Buch zur Fuck-up-Night als methodische Anleitung zum bewussten Scheitern in Alltagssituationen vor, um die emotionale Erfahrung als Bestandteil der Entwicklung zu begreifen. Die vorhersehbare Ablehnung soll mit Enthusiasmus und Dankbarkeit angenommen werden (Failure Institute, 2014, S. 19f.).